Assemblage aus Punkten und Linien
Der Text ist 2021 als Beitrag im Katalog „ein und viele | Performative Skulpturen“ zur Kolam- und Performancekunst von Kaaren Beckhof erschienen.
Geleitet von einer intensiven Wahrnehmung des Ortes und seiner Innenschau, geht es Kaaren Beckhof darum, den Ort mit ihrer Streuzeichnung atmosphärisch umzudeuten und an dieser Erfahrung teilhaben zu lassen.

Kalkulierend findet die Künstlerin die Positionen und verteilt die Punkte, um die herum sie die Linien ziehen wird. Dem gedanklichen Vorgang folgt der Prozess des Streuens als körperliche Bewegung, das Wechselspiel beider ist das gestalterische Werden.
Die performativen Streuzeichnungen entfalten sich als eine Assemblage aus Punkten und Linien, gestreut mit Reis- oder Steinmehl auf einen Grund aus Erde, Stein oder Sand. Die Materialität des Ortes, die Stofflichkeit der Streuutensilien zum einen und die Figur der Akteurin in ihrem gedanklichen, ästhetischen und körperlichen Wirken zum anderen, finden in ihrer Heterogenität zu einem Gefüge zusammen.
„Die Linie vollzieht sich in der Arm- und Handbewegung des Streuens um ein Raster von Punkten herum, […] In dieser Vorstellung eröffnet die Markierung der Fläche […] nicht nur die Dimensionen des Raums, sondern auch der Zeit. […] Endlich und unendlich, innen und außen, privat und öffentlich, verschränken sich in den Linien zu einer Zone, die als Schwelle Grenzen zieht und zugleich zum Überschreiten einlädt.“[1]
Im zeitlichen Ablauf und in der räumlichen Ausdehnung des Streuens entfaltet die Zeichnung ihre Sichtbarkeit, während die Akteurin in konzentrierter, vorgebeugter Haltung in jeder ihrer Bewegungen nach innen entrückt wirkt. Einer Skulptur gleich scheint ihre Figur still zu stehen und mit der Assemblage zu verschmelzen.
Gleichwohl entsteht keine abgeschlossene Einheit; denn sobald alle Linien gezogen sind, wird die Zeichnung zum Über- und Durchschreiten überlassen. Nicht mehr kalkulierte, sondern zufällige Bewegungen, von außen nach innen, verwischen die Zeichnung bis sie aufgelöst ist.



Die Performance lässt sich als ein dividueller[2] Prozess beschreiben, für den kennzeichnend ist, als eine Abfolge von Modulationen zu verlaufen, die beständig Teilungen, Verkettungen, Ankopplungen produzieren, ohne ein Ende zu finden. Sie bleiben temporär, flüchtig. Mit der Figur der Akteurin fügen sie sich in eine Assemblage, die in der Konjunktion der heterogenen Elemente bereits die Disjunktion enthält, das Auflösen, die Trennung durch Teilhabe. „Ich und Nicht-Ich, Innen und Außen“ verlieren dabei ihre distinktive Bedeutung.[3]



Weder auf Teleologie oder Linearität einer abschließenden Synthese ausgerichtet, folgen die Linien der Streuzeichnung von Kaaren Beckhof Algorithmen, die aus der Mitte heraus wirken.[4] „Dort, in der reißenden Mitte des Dividuellen, braucht es keinen Grund, keine Wurzel.“[5]
In der Vorbeuge verharrend, die ihr Halt -ihre Mitte- gibt, wird die Figur der Akteurin zur Skulptur. Zugleich ist sie in ihrer Haltung und Bewegung die Mitte, die den Code setzt für den dividuellen Prozess, der die heterogenen Elemente der Assemblage und ihre Verkettung erwirkt.[6]
Mit dem Überschreiten der Zeichnung und ihrem Verwischen geht ihre Entfaltung in eine Faltung[7] über, die zuvor entfernte Ensembles einander anzunähern scheint, während nahe Punkte verschwinden. Die räumliche Anordnung verschiebt sich und mit ihr die zeitliche Abfolge: die Punkt um Punkt kreisendende Bewegung weicht und gibt Raum und Zeit für Prozesse der Trennung und Teilhabe, die an sie ankoppeln.
Das betrifft „geteilte Umwelten, Lebensräume, Teilungen von Gütern, Teilungen von Personen und Migrationsregime zugleich.”[8]

Die Skulptur als dividueller Prozess ermöglicht partizipative Praktiken, die an das künstlerische Ereignis anschließen und ein transversales Denken der Öffnung produzieren.[9] Die Linien werden durchquert, um weiterhin mannigfaltig geteilt, mitgeteilt, moduliert und vernetzt zu werden.
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[1] Franzen, Jutta: Die Linie. Bewegung in Raum und Zeit. In: kunsttext.werk, Universität Graz, grazer kunstverein, 2010, ISSN 2079-598X
[2] Deleuze, Gilles: Postscript on the Societies of Control, in: L’Autre journal, no. 1, May, 1990, [2019-08-24]
Deleuze, Gilles, Guattari, Felix, Anti-Ödipus, Kapitalismus und Schizophrenie 1, Frankfurt/M 1977, S.11
Bee, Julia: Linie-Werden, Welt-Werden, Fliehen. Aktuelles und Virtuelles zum Dividuellen. S. 145, in:
Zeitschrift für Medienwissenschaft. Heft 13: Überwachung und Kontrolle, Jg. 7 (2015), Nr. 2, S. 143–148
[3] Deleuze, Gilles, Guattari, Felix, Anti-Ödipus, Kapitalismus und Schizophrenie 1, Frankfurt/M 1977, S.8
[4] Deleuze, Gilles, Guattari, Felix, Anti-Ödipus, Kapitalismus und Schizophrenie 1, Frankfurt/M 1977, S.11
[5] Raunig, Gerald: Dividuum. Maschinischer Kapitalismus und molekulare Revolution, Band 1, Wien u.a. 2015, S. 25
[6] Deleuze, Gilles: Postscript on the Societies of Control, in: L’Autre journal, no. 1, May, 1990, [2019-08-24]
[7] Michel Serres hat zur Veranschaulichung der Falte das Bild eines Taschentuches: „Liegt das Tuch glatt gestrichen auf einem Tisch, so lassen sich verschiedene Punkte auf ihm markieren und deren Abstand zueinander genau bemessen. Wird das Taschentuch nun aber gefaltet oder zerknittert, sind vorher weit entfernte Punkte plötzlich nah und berühren einander.“ Lisa Malich, Die Zeit von Bruch und Faltung: Anschlüsse zwischen Foucault und Serres, 2015-02-20 [2019-08-24]
[8] Bee, Julia: Linie-Werden, Welt-Werden, Fliehen. Aktuelles und Virtuelles zum Dividuellen. S. 144
[9] Bee, Julia: Linie-Werden, Welt-Werden, Fliehen. Aktuelles und Virtuelles zum Dividuellen. S. 145